Ältere und hochbetagte Menschen erfordern in der Physio- und Ergotherapie besondere Aufmerksamkeit. Denn neben der körperlichen lässt oft auch die geistige Kraft nach. Häufig liegen mehrere Krankheiten gleichzeitig vor, die sich gegenseitig beeinflussen. Es braucht also ein akribisches Assessment und aufmerksame Kommunikation, um geriatrische Patientinnen und Patienten bestmöglich zu betreuen. Dies gelingt am besten, wenn die Therapeuten eng mit Haus- und Fachärzten zusammenarbeiten.
In der Altersmedizin spricht man gerne von den „Geriatrischen I’s”. Gemeint sind die multifaktoriellen Syndrome im Alter, die alle mit „I” beginnen und die sich häufig bei betagten Patienten zeigen: Immobilität, Inkontinenz, Instabilität, Intellektueller Abbau, Insomnie und Iatrogene Probleme (Gesundheitsschäden als Folge ärztlicher Eingriffe oder Therapiemaßnahmen, etwa durch fehlerhafte Polymedikation). Manchmal werden auch Aspekte wie Isolation, Immundefekt und Impotenz dazugerechnet.
Ganz praktisch heißt dies: Viele alte Menschen schaffen im Alltag nicht mehr, was ihnen vorher möglich war. Es gibt vermehrt Stürze, gefolgt von Angst, welche wiederum die Teilhabe am sozialen Leben einschränkt. Durch Mehrfacherkrankungen, Mangelernährung und -bewegung sowie Isolation kann es auch zu Depressionen kommen. Mit derart komplexen Indikationen stellen geriatrische Patientinnen und Patienten auch Mitarbeitende in der Physio- und Ergotherapie vor besondere Herausforderungen.
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Detaillierte Assessments als Basis geriatrischer Physiotherapie
Um betagte Menschen angemessen zu versorgen, ist – mehr noch als bei anderen Patientengruppen – eine umfassende Vorinformation notwendig. „Grundlage jeder guten Therapie sind passende Assessments und professionelle Kommunikation”, betont Marius von Karais, Teamleiter Sportwissenschaft, Physiotherapie und Physikalische Therapie im Neurologischen Therapiecentrum (NTC) in Köln. „Die Assessments brauchen wir, um zu Beginn und während der Therapie den aktuellen Gesundheitszustand zu evaluieren und zu reevaluieren und damit die Fortschritte genau zu ermitteln und zu dokumentieren”, so der Therapeut weiter. Der körperliche und geistige Zustand spielt hierbei ebenso eine Rolle wie psychosoziale Aspekte (lesen Sie hierzu auch unseren Artikel zu interdiszplinären Ansätzen in der geriatrischen Rehabilitation).
Im Idealfall wurde bei einem Klinik- oder Rehaaufenthalt bereits ein umfassendes Assessment erstellt, um die Möglichkeiten und Einschränkungen des Patienten zu erfassen und einzuordnen. Die Ergebnisse des Assessments und die bisherigen Therapieerfolge gehen dann in den Therapiebericht der Klinik ein. Hat die Physiopraxis den Therapiebericht nicht vorliegen, kann man diese Unterlagen beim Hausarzt anfordern, um sich mit dem Verlauf der Behandlung und dem aktuellen Stand vertraut zu machen. Gerade bei geriatrischen Patientinnen und Patienten empfiehlt sich über die Dauer der Therapie ein reger interdisziplinärer Austausch zwischen den beteiligten Ärzten und Therapeuten. Sehr häufig fällt dieser allerdings der mangelnden Zeit zum Opfer – auch deshalb, weil solche Leistungen nicht honoriert werden. Wichtig: Wenn der fachliche Austausch angestrebt wird, muss vom Patienten unbedingt die Entbindung von der Schweigepflicht eingeholt werden.
Motivierende Gesprächsführung
Zu Beginn eines Therapiezyklus stellt sich die Frage, ob der Patient eigenständig leben kann oder auf fremde Hilfe angewiesen ist. Wenn der Patient oder die Patientin im Alltag eingeschränkt ist, kann es hilfreich sein, die Familie oder andere betreuende Personen ins Gespräch mit einzubeziehen, da sie oft großen Einfluss haben und im täglichen Leben unterstützen können. „Bei alten Menschen müssen wir besonders sensibel kommunizieren und alle Beteiligten geduldig über das Krankheitsbild und seine Folgen aufklären”, so Marius von Karais.
Zunächst gilt es durch zielgerichtete Kommunikation den Lebensalltag der betroffenen Person zu durchleuchten: Im Gespräch werden die Herausforderungen oder Schwierigkeiten herausgearbeitet, die im Alltag bestehen, um dann wirklich gezielt und symptomorientiert behandeln zu können. In der Geriatrie geht es hierbei häufig um Kraftlosigkeit (Sarkopenie) oder Gleichgewichtsstörungen. „Da können wir als Therapeuten auch mit ganz praktischen Tipps unterstützen – etwa wie man sich sicher auf Treppen bewegt oder dass man bei einer Gangunsicherheit zu Hause keine Läuferteppiche haben sollte”, erklärt der Physiotherapeut.
Eine große Rolle spielen im Gespräch mit Senioren die Motivation und das Wording: „Als Therapeuten stoßen wir häufig auf Widerstand, wenn wir älteren Menschen sagen, was sie tun sollen, denn das heißt, dass sie etwas verändern müssen”, sagt von Karais. Anstatt den Patienten oder die Patientin anzuweisen, eine bestimmte Übung zu machen, könne man aus den natürlichen Alltagsbewegungen kleine Übungen ableiten und diese beispielsweise als „Bewegungssnacks” anbieten. So lässt sich durch geschickte Gesprächsführung die intrinsische Motivation des Patienten anregen. „Wir vermitteln also nicht den Willen des Therapeuten, sondern den Nutzen für den Patienten, wie das ja immer in der Physiotherapie sein sollte. Am besten funktioniert die Therapie, wenn der Patient am eigenen Körper spürt, was ihm guttut – und was eben nicht. Auch hier können Angehörige wieder einbezogen werden.”
Fortbildungs-Tipp: Therapeutische Kommunikation
In der Ausbildung zum Patientenmanager spielt die therapeutische Kommunikation eine zentrale Rolle. Diesem wichtigen Thema sind allein 3 von 10 Modulen gewidmet:
- Modul 4: Patientenkybernetik I. Therapeutische Kommunikation – Placebo oder Nocebo
- Modul 5: Patientenkybernetik II. Therapeutische Kommunikation und Arztgespräch –Zusammenarbeit auf Augenhöhe
- Modul 6: Patientenkybernetik III. Therapeutische Kommunikation, Rhetorik und Körpersprache
Die Ausbildung zum Patientenmanager vermittelt Physiotherapeutinnen und -therapeuten das notwendige Rüstzeug, mit dem sie Menschen dabei unterstützen können, bestmöglich an ihrer eigenen Genesung mitzuwirken. Der konstruktive und lösungsfokussierte Ansatz bezieht ganz bewusst die Patienten-Ressourcen in die Therapie ein und verstärkt so die Fähigkeit, den Patientinnen und Patienten die Sinnhaftigkeit der medizinisch-therapeutischen Maßnahmen nahezubringen. Ausführliche Informationen und Anmeldung auf der Website von Patientenkybernetik.
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In gutem Kontakt mit Ärztinnen und Therapiekollegen
Kommt ein Patient oder eine Patientin direkt aus dem Akutkrankenhaus oder aus der Reha in die Physiopraxis, ist er oder sie meist mit den nötigen Hilfsmitteln versorgt. In manchen Fällen aber zeigt sich erst in der Physiotherapie, dass ein Rollator oder Gehstock die Situation erleichtern würde. „Da ist die Hürde oft sehr hoch, weil das Thema für manche Menschen schambehaftet ist”, so Marius von Karais. Physiotherapeutinnen und -therapeuten können unterstützen, indem sie bei Bedarf ein Hilfsmittel zunächst als Übergangslösung vorschlagen, wobei die Verordnung natürlich über den Arzt oder die Ärztin laufen muss. „Bei Patientenedukation und Angehörigenberatung dürfen wir die Grenze unserer eigenen fachlichen Kompetenz auf keinen Fall überschreiten”, betont von Karais. „Aber wir wissen ja, was beispielsweise die Ergotherapie oder die Logopädie leisten kann. Dieses Wissen können wir einbeziehen und bei Bedarf auch den Tipp für ein Rezept beim Ergotherapeuten oder Logopäden geben, das dann aber von ärztlicher Seite gutgeheißen und ausgestellt werden muss.”
Hier wird deutlich, wie wertvoll die interdisziplinäre Zusammenarbeit gerade bei älteren Patienten ist. Dies gilt auch für den Kontakt zu Sanitätshäusern, die bei gut etablierter Kooperation durchaus auch mal in die Praxis kommen, um gemeinsam mit dem Physioteam die beste Lösung für den Patienten zu finden. Durch ein dicht gewebtes interdisziplinäres Netzwerk können Physiotherapeutinnen und -therapeuten ihre geriatrischen Patienten nach einem Klinikaufenthalt oder einer stationären Reha professionell unterstützen, damit sie ihren Alltag mit all seinen Herausforderungen bestmöglich meistern.
Und dann gibt Marius von Karais als Kliniktherapeut noch einen wichtigen Tipp: „Auch niedergelassene Kolleginnen und Kollegen sollten nicht auf dem Wissensstand der Ausbildung stehenbleiben, sondern sich regelmäßig informieren und auf dem neuesten Stand der Forschung bleiben.” Für aktuelle Studienzusammenfassungen aus dem Bereich Physiotherapie empfiehlt er Physio meets Science, eine Website von Therapeuten für Therapeuten, die Studienergebnisse gut lesbar zusammenfasst.