Bis zu zehn Krankheiten gleichzeitig, Wechselwirkungen zwischen Medikamenten, reduzierte Kraftreserven: Ältere und hochbetagte Menschen stellen Ärzte und Therapeuten vor ganz besondere Herausforderungen. Deshalb haben sich in keinem Bereich der medizinischen Versorgung interdisziplinäre und multimodale Ansätze so durchgesetzt wie in der Geriatrie. Einer der führenden Geriater Deutschlands erklärt, wie in seiner Klinik die unterschiedlichen Disziplinen kooperieren – darunter auch Physio- und Ergotherapie.
Die geriatrische Rehabilitation hat in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel erfahren: Standen früher oft isolierte therapeutische Maßnahmen im Vordergrund, setzen sich mittlerweile immer mehr interdisziplinäre und multimodale Ansätze durch, bei denen Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Disziplinen Hand in Hand mit Therapeuten und Beratern arbeiten. „Dies liegt in erster Linie an der Komplexität der Fälle”, erklärt Prof. Dr. Ralf-Joachim Schulz, Facharzt für Innere Medizin, Klinische Geriatrie, Gastroenterologie, Ernährungsmedizin, Physikalische Therapie und Balneologie sowie Chefarzt des Altersmedizinischen Zentrums im St. Marien-Hospital Köln. „Man hat es in der Altersmedizin meist nicht mit einer Erkrankung zu tun, sondern im Schnitt mit fast zehn Erkrankungen gleichzeitig.” Damit ist häufig eine Polymedikation mit mehr als fünf Präparaten verbunden, die dann wieder zu den unterschiedlichsten Wechselwirkungen führen kann.
Spezialisierung durch interdisziplinäre Zusammenarbeit
Um den besonderen Bedürfnissen betagter Menschen gerecht zu werden, entstehen immer mehr spezialisierte Kliniken und Zentren, die sich mit interdisziplinären und multimodalen Ansätzen hochprofessionell dieser Patientengruppe widmen. Dazu zählt auch das Altersmedizinische Zentrum in Köln als eines der größten geriatrischen Zentren Deutschlands mit 200 Betten, darunter 45 Plätze für geriatrische Reha im Sinne einer stationären Anschlussheilbehandlung. Zum Wohl der Patientinnen und Patienten kooperieren dort Fachärzte aus den unterschiedlichsten Disziplinen – von Kardiologie und Onkologie, über Internistik und Gastroenterologie bis hin zu Pulmologie, Neuropsychologie und Allgemeinmedizin – mit Expertinnen und Experten aus Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Ernährungsberatung. Auch in der Pflege verfolgt man einen therapeutischen Ansatz: Die Pflegekräfte sind angehalten, gemeinsam mit den Physios die Patienten zu mobilisieren. „Das Konzept geht nur auf, wenn die Ärzte, die Therapeuten und die Pflege in einem gleichberechtigten Konsens arbeiten und ein Ziel definieren, das sie über ihre einzelnen individuellen Therapiekonzepte hinaus im Auge behalten”, betont Prof. Schulz. Zu den übergeordneten Zielen zählen beispielsweise sicherer Stand und sicherer Gang, damit die Person wieder ins häusliche Umfeld zurückkehren kann.
Funktionalität im Fokus
Auf dem Weg zur möglichst umfassenden Eigenständigkeit gilt es verschiedene Faktoren zu betrachten: „Die Therapie im höheren Alter hängt ganz wesentlich von der Funktionalität ab”, betont Prof. Schulz. „Diese muss man mit allen Mitteln versuchen zu halten, zu fördern und zu stabilisieren, denn betagte Menschen haben weniger Reserven und dadurch ist die Rekonvaleszenzzeit deutlich länger als bei jüngeren Patienten. Wir müssen also zwei Säulen gleichzeitig bedienen: auf der einen Seite die Förderung der Funktionalität unter Ausnutzung der Funktionsreserven, die die Patienten noch haben, und auf der anderen Seite die medizinische Seite, die die Funktionalität erhält oder eben erst möglich macht.”
Wie wichtig die Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven ist, erläutert Prof. Schulz am Beispiel der Oberschenkelhalsfraktur bei einer 80-jährigen Frau: Ideal wäre es für die Patientin, möglichst bald nach der Operation wieder in die Bewegung zu kommen. „Allerdings besteht bei 80 Prozent der geriatrischen Patienten auch eine Herzinsuffizienz. Die Dame kann also nur üben, wenn wir zunächst die Herzfunktion effektiv behandeln und optimieren”, betont der Geriater. Außerdem könne man die Patientin nur fördern und mobilisieren, wenn sie keine Schmerzen hat. Eine medikamentöse Schmerztherapie ist aber in manchen Fällen nur eingeschränkt möglich, weil viele Patienten eine Nierenschwäche haben und diese Niereninsuffizienz nur durch Medikamente ausgeglichen werden kann, die wieder Wechselwirkungen mit Schmerzmitteln aufweisen können. „Wenn die Patientin 30 wäre, würde man den Bruch heilen – und mit etwas Physiotherapie wäre alles wieder gut. Wenn Sie aber 80 ist und wenig Reserven hat, dann braucht sie eine begleitende Therapie der vielen Komorbiditäten und man muss mit den verschiedenen Berufsgruppen wie etwa Physio- und Ergotherapeuten die Alltagskompetenz wieder herstellen.” Bei Parkinson und Demenz oder nach Schlaganfall sind häufig auch Logopäden gefragt, um Schluck- und Sprechstörungen zu behandeln. Auch die Ernährungstherapie spielt eine wichtige begleitende Rolle.
Geriatrisches Assessment als Basis für eine interdisziplinäre und multimodale Versorgung
Um eine optimal vernetzte Versorgung der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten, kommt im Altersmedizinischen Zentrum in Köln einmal wöchentlich das gesamte Team zusammen und berät ausführlich jeden Fall. Im täglichen Morgenbriefing wird jeder neu aufgenommene Patient vorgestellt und im Rahmen eines geriatrischen Assessments betrachtet: Alle infrage kommenden Berufsgruppen aus Medizin, Therapie und Pflege erfassen gemeinsam die Stärken und Defizite des Patienten und erarbeiten auf dieser Basis ein übergeordnetes Therapieziel. Neben den körperlichen spielen hierbei auch psychosoziale Faktoren eine Rolle, etwa ob es sinnvoll ist die Familie einzubeziehen oder ob eine anschließende Pflege zu beantragen ist.
Von der Klinik in die Physiopraxis: Immer im Austausch bleiben
Während die interdisziplinäre Versorgung in einer geriatrischen Spezialklinik gut organisierbar ist, stellt die Weiterversorgung nach der Entlassung alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Ziel muss sein, möglichst effektiv auf die Erfolge der stationären Reha aufzubauen. Im Bereich der Physiotherapie gelingt dies am besten, wenn die Therapeutinnen und Therapeuten sich regelmäßig mit den betreuenden Medizinern austauschen. „Physio- und Ergotherapeuten können und sollten den Entlassungsbrief der Klinik vom Hausarzt einfordern”, rät Prof Schulz. „Im Abschlussbericht der Geriatrie ist genau festgehalten, was das therapeutische Ziel war, was davon bereits erreicht wurde und was die Ärzte und Therapeuten für die Zukunft empfehlen.” Im Idealfall fließen die Abschlussberichte aller in der Klinik beteiligten Berufsgruppen – also auch der Physio- und Ergotherapeuten – in den Entlassungsbrief ein und bilden mit konkreten Empfehlungen die Basis für den weiteren Behandlungsweg.
In der nächsten Ausgabe von proxovision erfahren Sie, wie Sie in Ihrer Physiopraxis betagte Patienten am besten begleiten und behandeln können.