2021 wurde der Weg zur physiotherapeutischen Gruppentherapie nochmals vereinfacht: Physiotherapeuten können ein Rezept jetzt eigenständig von Einzel- zu Gruppentherapie umschreiben, wenn dies im Rahmen des Behandlungsverlaufs angemessen erscheint. Dies ist in medizinischer und finanzieller Hinsicht sinnvoll, und es birgt viele positive Effekte – für Patienten ebenso wie für die therapeutische Praxis. Dennoch wird es in den Praxen noch viel zu selten umgesetzt. proxovision zeigt auf, wo die Hürden liegen und wie sie sich überwinden lassen.
Bei Verhandlungen zur Heilmittel-Richtlinie geht es immer wieder um die Frage, welche Änderungen auf dem Rezept der Arzt oder die Ärztin vornehmen muss und was ein Physiotherapeut eigenständig ändern kann. So darf beispielsweise nur der Arzt mit Datum und Unterschrift die Diagnose ändern. Aspekte wie etwa die Therapiefrequenz können vom Physiotherapeuten in Absprache mit dem Arzt ohne dessen Unterschrift modifiziert werden. Manche Änderungen aber dürfen Therapeuten auch eigenständig vornehmen, etwa die Umwandlung eines Rezepts von Gruppen- zu Einzeltherapie. Dies ist im Sinne der Patienten absolut sinnvoll, wie Andrea Rädlein, Vorsitzende des Deutschen Verbands für Physiotherapie (ZVK), erklärt: „Nur der Physiotherapeut kann die Entscheidung treffen, ob und zu welchem Zeitpunkt des Behandlungsverlaufs Gruppentherapie angebracht ist. Das kann der Arzt einfach nicht entscheiden.“
Um allen Patienten individuell gerecht zu werden, wird bei fast allen Diagnosen zunächst weiterhin in Einzeltherapie behandelt, etwa durch Manuelle Therapie oder Lymphdrainage. Dies gilt vor allem nach Verletzungen und Operationen, aber auch bei akuten Schmerzen anderer Art. „Im Verlauf der Behandlung ist es dann die Verantwortung des Therapeuten zu sagen, wann der Patient so weit ist, dass er seine Bewegungen kontrolliert und reflektiert auch in der Kleingruppe durchführen kann. Er muss also in Sachen Kraft, Koordination, Bewegungsausmaß an dem Punkt sein, wo es um Erhaltung geht. Mit Gruppentherapie kann man ihn dann sehr gut wieder in die Aktivität führen“, betont Rädlein. Auch bei chronischen Schmerzerkrankungen hat sich die Gruppentherapie bewährt und zeigt sehr gute Erfolge.
Gruppentherapie als Heilmittel – auch gegen den Fachkräftemangel
Auch wenn es für viele Physiotherapeuten zunächst einige Anstrengung bedeuten mag, die Gruppentherapie verstärkt ins eigene Angebot aufzunehmen, werden die Praxen auf Dauer kaum um diese Möglichkeit herumkommen. „Eine zentrale Frage in unserer Branche ist ja: Wie können wir zukünftig unter Fachkräftemangel noch alle Patienten versorgen?“, sagt Andrea Rädlein. „Ein Vorteil der Gruppentherapie liegt darin, dass ich mehrere Patienten, eventuell auch mit ähnlicher Symptomatik, gemeinsam behandeln kann. Außerdem kann ich dem Patienten damit auch ein weiterführendes Angebot für einen etwas längeren Behandlungsverlauf machen, vor allem, wenn das aus Ressourcengründen in Einzeltherapie nicht möglich wäre.“
Schließlich liegen die Wartezeiten in den Praxen momentan bei sechs bis acht Wochen. Man wird in Zukunft deshalb immer häufiger die Frage stellen müssen, ob wirklich jeder Patient Einzeltherapie erhält oder ob man diese Leistung nicht viel häufiger in Gruppentherapie umwandeln kann und muss – vor allem im späteren Behandlungsverlauf. „Wir schaffen es kaum noch, alle Patienten unterzubringen“, so Rädlein. „Wenn wir künftig häufiger mehrere Patienten zusammenführen können, würden sich auch die Wartezeiten verringern.“
Dennoch schreiben bislang eher wenige Physiotherapeuten Rezepte von Einzel- auf Gruppentherapie um. Häufig stehen dabei organisatorische Probleme im Vordergrund: „Für eine kleine Praxis ist es sehr schwierig, mehrere Patienten zusammenzubringen – möglichst mit der gleichen Erkrankung, möglichst mit ähnlichen Voraussetzungen, und das auch noch zur gleichen Uhrzeit und am gleichen Tag“, erklärt Andrea Rädlein. „Das ist eine große Herausforderung. Deshalb funktionieren auch häufig Angebote wie Präventionskurse oder Rehabilitationssport in kleineren Organisationen so schwer.“
Langfristiges Ziel der Physiotherapie: Wieder in die Aktivität kommen
Hinzu kommt eine gewisse Trägheit der Branche, die teils immer noch ein überholtes Bild der Physiotherapie zeichnet und weiterträgt. Dies führt dazu, dass in vielen Praxen die Behandlung auf der Bank das Mittel der Wahl bei fast jeder Diagnose ist. Dies beobachtet auch Jeanette Weigert, Inhaberin der Physiopraxis Comeback im Ärztehaus Wittmund: „Viele Physiotherapeuten sehen nur den akuten Schmerz des Patienten. Da mag es sich dann erstmal anbieten, mit Massage oder Manueller Therapie einzugreifen. Die Bank hilft aber nur temporär und man kann dabei leicht das Fernziel aus den Augen verlieren, nämlich die Menschen wieder alltagstauglich zu machen. Das geht ab einem bestimmten Punkt nur mit aktiver Bewegung, und da ist die Arbeit in der Gruppe ideal – natürlich immer unter physiotherapeutischer Aufsicht und Begleitung.“
Selbst Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen kann man in der Erhaltungsphase eines Behandlungszyklus gut in einer Gruppe betreuen. „Fast jedes Krankheitsbild ist multifaktoriell – ganz gleich, ob jemand Rücken, Schulter oder Knie hat“, erklärt Weigert. „Für alle geht es in der Gruppentherapie darum, wieder Beweglichkeit für den Alltag zu entwickeln.“ Idealerweise setzt der Therapeut natürlich für jeden Patienten individuelle Zwischenziele, und jeder macht die Übungen in der Gruppe so, wie es seinen momentanen Fähigkeiten entspricht.
Auch die Gruppendynamik spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle – eine Erkenntnis, die Jeanette Weigert aus ihrer langjährigen Erfahrung mit Sportgruppen in Vereinen, Kinder-Yogagruppen sowie physiotherapeutischen Gruppen mitbringt: „In einer Gruppe hole ich den Patienten nicht nur physisch ab, sondern ich kann ihn auch psychisch und sozial abholen. Eine Erkrankung ist schließlich nicht immer nur ein strukturelles Problem. Beispielsweise haben ein Schlaganfallpatient und ein Mensch mit MS völlig unterschiedliche Krankheitsbilder, aber beide verbindet das soziale Problem nicht mehr mobil, nicht mehr alltagstauglich zu sein. Das belastet sie psychisch. In der Gruppe können sie sich auch gegenseitig aufbauen.“ Sehr spannend ist die Beobachtung der Physiotherapeutin, wie in der Gruppe alle ihre Rolle finden: „Da gibt es Fleißige und Bequeme, Laute und Leise – und manchmal ist gerade der Langsame derjenige, der statt viel Power eine Menge gute Laune einbringt.“
Herausforderung für Physiotherapeuten
Physiotherapie in der Gruppe kann also Spaß machen – den Anleitenden ebenso wie den Patienten. Allerdings stellt die gezielte und professionelle Gruppentherapie Therapeuten durchaus auch vor Herausforderungen – gerade, wenn sie diese Behandlungsform neu in ihr Angebot aufnehmen. Häufig fehlt es an den passenden Übungen, da dieser Bereich in der Ausbildung bislang ein eher stiefmütterliches Dasein fristet. Der Weg zu einem umfassenden Repertoire führt also zunächst einmal über Fortbildung. „Viele Physios kennen nur Übungen für einen bestimmten Schmerz und haben wenig Blick fürs große Ganze“, stellt Jeanette Weigert fest. „Dabei geht es – gerade in der Erhaltungsphase – doch darum, die Patienten wieder in die Aktivität und die Alltagstauglichkeit zurückzuführen. Das kann ganz einfach sein, zum Beispiel mit Alltagsgeräten wie einem Stuhl oder einem Handtuch. Es braucht eben auch von uns Therapeuten erstmal Engagement und Interesse an der Sache.“
Neben einem Repertoire an geeigneten Übungen benötigt man für Krankengymnastik in der Gruppe (auf dem Rezept: KG Gruppe) natürlich auch die passenden Räumlichkeiten. Die für jede Physiopraxis vorgeschriebenen 20 qm sind durchaus ausreichend, um vier bis fünf Personen auf Gymnastikmatten anzuleiten. Bei Krankengymnastik am Gerät (auf dem Rezept: KGG Gruppe) gilt es, die Geräte so zu platzieren, dass ein guter Kontakt zwischen dem Therapeuten und den Patienten sowie idealerweise auch der Patienten untereinander möglich ist.
Vorteile für die Physiopraxis: Mehr Zeit, mehr Geld
Auf den ersten Blick mag die Behandlung auf der Bank für Therapeuten die bequemere Lösung sein. „Das stimmt aber gar nicht“, betont Jeanette Weigert. „Die Anleitung einer Gruppe ist ganz natürlich. Die Atmosphäre ist offen und gesetzt. Das entlastet auch den Physiotherapeuten. Zwar hat man in der Gruppentherapie mehr Patienten, doch dies entkräftet nicht. Die 1:1 Therapie bedeutet in unserem aktuellen Kassensystem regelrecht von Bank zu Bank zu rennen. Das ist viel, viel anstrengender als die Gruppe.“
Nicht zuletzt ist die Gruppentherapie auch wirtschaftlich sinnvoll. Sie verspricht höhere Umsätze für die Praxis, denn zweimal eine halbe Stunde mit vier bis fünf Personen bringt deutlich höhere Stundensätze als drei Massagen. „Dieses Heilmittel gibt es nicht umsonst“, sagt Jeanette Weigert. „Gute und langfristig wirkungsvolle Behandlungsmethoden werden besser honoriert. Das lassen sich auch die Krankenkassen etwas kosten, weil sie wissen, dass der Patient für eine nachhaltige Genesung in die Aktivität kommen muss.“
Allerdings gibt es auf dem Weg zu mehr Gruppentherapie noch einige Hürden: Davon abgesehen, dass viele Therapeutinnen und Therapeuten die Option der Umschreibung von Einzel- auf Gruppentherapie gar nicht kennen, ist letztere in manchen Software-Versionen des Heilmittelkatalogs nicht oder nicht korrekt verzeichnet. Die Ärzte können sie in einem solchen Fall also nicht problemlos verschreiben. „80 Prozent der Ärzte kennen sich im Heilmittelkatalog nicht aus“, bestätigt auch Michael Faßbender, bei proxomed Leiter Consulting und Vertrieb Deutschland. „Deshalb bieten wir hierzu spezielle Schulungen an.“
Auch in der Fortbildung fristet die Gruppentherapie noch ein Stiefmütterchendasein. „Da wird uns zwar das Handling beigebracht, aber nie die Umsetzung“, beklagt Jeanette Weigert. „Es wäre sicherlich sinnvoll, auch komplette Stundenprogramme zu vermitteln, so dass es den Therapeuten leichter fällt da einzusteigen. Außerdem geht es darum, wie man die Gruppentherapie in die Praxisstruktur integriert – auch räumlich – und wie man gegenüber dem Arzt und dem Patienten die Gruppentherapie kommuniziert.“
Sind diese Hürden einmal genommen, verspricht die Gruppentherapie für die Physiopraxis eine Menge Vorteile: Kürzere Wartezeiten, mehr Geld, entspannteres Arbeiten mit mehr Abwechslung, zufriedene Patienten – und nicht zuletzt mehr Freude an der Arbeit.