Ob Atem- oder Herz-Kreislauf-Probleme, Schmerzen oder Muskelschwäche, neuropathische oder kognitive Beschwerden: Bei vielen Symptomen von Long Covid oder Post-Vac-Syndrom kann Physiotherapie wertvolle Dienste leisten. Dr. Jördis Frommhold, Leiterin des Instituts für Long Covid in Rostock, erklärt, welche Verfahren sich eignen, damit Patientinnen und Patienten ihren Alltag Schritt für Schritt wieder bewältigen können.
Viele Menschen mit Long Covid oder Post-Vac-Syndrom kämpfen monate- oder gar jahrelang, um wieder zu ihrer ganzen Kraft zurückzufinden. Sehr häufig zeigt sich dabei eine starke Erschöpfung (Fatigue), oft gepaart mit einer Belastungsintoleranz. Der Weg zurück ins normale Leben ist deshalb ein Balanceakt: Auf der einen Seite gilt es Muskeln und Herz-Kreislauf-System zu erhalten oder wieder aufzubauen, auf der anderen Seite muss man mit den Kräften haushalten. „Die größte Gefahr beim Training nach einer Covid-Erkrankung oder bei Impfschäden nach Corona-Impfung ist, dass die Leute sich überfordern, sich also körperlich oder auch geistig mehr zumuten als sie verkraften können“, betont Dr. Jördis Frommhold, Pneumologin und Leiterin des Instituts für Long Covid in Rostock. Pacing ist also bei jeder Long-Covid-Therapie das höchste Gebot. Das heißt: Immer unter dem Limit bleiben (lesen Sie hierzu auch unseren Artikel in proxovision 04). Wenn sie diese Maxime befolgen, können Patientinnen und Patienten von verschiedenen physiotherapeutischen Verfahren profitieren und so ihren Gesundheitszustand nach und nach verbessern.
Physiotherapie bei Atemproblemen
Nach einer Corona-Erkrankung neigen viele Menschen mit Fatigue und Belastungsintoleranz zu reduzierter Atmung, selbst wenn es in der Akutphase keine Lungenprobleme gab. „Da viele Long-Covid-Patienten ihre Schonatmung gar nicht wahrnehmen, betrachten wir immer zunächst die Atemmechanik“, erklärt Dr. Frommhold. „Denn bei dauerhafter Schonatmung ist der Leistungsaufbau schwierig, weil der Patient schon bei kleinster Belastung die Atmung reduziert.“ Probleme in der Atemmechanik erkennt man beispielsweise, wenn die Patientin oder der Patient schnell außer Atem ist, die Schultern hochzieht, häufig hustet und sich räuspert oder wenn der Redefluss eingeschränkt ist. Physiotherapeutisch unterstützen kann man hier durch:
- Atemtherapie/Atemtechniken
- Reflektorische Atemmassage
- Manuelle Therapie
- Osteopathie
- Yoga mit Fokus auf Atemtechniken
- Qi Gong zur Entspannung
Physiotherapie bei Schmerzen, Muskelschwäche und neuropathischen Beschwerden
Long Covid und Post-Vac-Syndrom bringen häufig Gelenk- und Muskelschmerzen sowie neuropathische Beschwerden mit sich. Für Fatigue-Patienten mit starker Belastungsintoleranz empfehlen sich in der Anfangsphase der Physiotherapie vor allem passive Maßnahmen, um die Sauerstoffversorgung der Muskeln zu verbessern und die allgemeine Energie zu steigern:
- Manuelle Therapie
- Massagen
- Neuromuskuläre Elektrostimulation (Elektrotherapie/Reizstromtherapie)
- Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS-Gerät)
- Wärme-/Kältetherapie
- Stangerbäder
- Zellenbäder
Hat sich der Patient stabilisiert, kann man auch die klassischen Methoden zur Leistungssteigerung in Betracht ziehen. Hierbei gilt es sehr sanft und schonend vorzugehen, um Überlastungen unbedingt zu vermeiden. Das heißt: sehr kleine Schritte, immer begleitet von achtsamem Pacing. Mit höherer Intensität sind diese Trainingsmethoden auch für Patienten ohne Fatigue und Belastungsintoleranz passende Maßnahmen:
- Krafttraining
- Ausdauertraining
- Training für Beweglichkeit und Koordination
Physiotherapie bei Herz-Kreislauf-Problemen
„Die meisten Long-Covid-Patienten haben keine Herzmuskelentzündung, Perikardergüsse oder ähnliches“, erklärt Dr. Frommhold. „Viel häufiger sehen wir einen Pulsanstieg nach den kleinsten Belastungen – häufig schon beim Wechsel vom Liegen zum Sitzen. Auch dies ist wieder ein Symptom der Fatigue, und da ist Kreislauftraining ganz klar kontraindiziert.“ Zunächst gilt es die Belastbarkeit langsam aufzubauen und dabei immer deutlich unter dem Leistungslimit zu bleiben. Erst wenn der Patient oder die Patientin wirklich stabil ist, kann man in kleinen Schritten mit dem Leistungsaufbau beginnen. Hierbei sollte die Herzfrequenz gut überwacht werden – etwa durch ein Pulsoximeter. Damit kann die Person selbst Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung messen, um das Training langsam zu steigern, ohne dass der Puls zu stark ansteigt. In vielen Fällen ist eine spezialisierte kardiologische Rehabilitation notwendig, die in enger Zusammenarbeit zwischen Physiotherapeuten und Kardiologen erfolgen sollte. Zusätzlich können Techniken zur Stressbewältigung und Entspannung integriert werden, um Stress zu reduzieren und die Herzfunktion zu stabilisieren.
Therapie bei kognitiven Störungen
Auch kognitive Beeinträchtigungen nach einer Coronainfektion sind häufig der Fatigue zuzurechnen, etwa Gedächtnisprobleme, Konzentrationsschwierigkeiten oder geistige Erschöpfung. Vor allem Geduld ist gefragt, wenn es darum geht, die geistigen Fähigkeiten wieder aufzubauen. Hierbei können folgende Maßnahmen unterstützen:
- Ergotherapie, am besten gepaart mit Neurofeedback
- Gedächtnistraining
- Techniken zur Verbesserung der Aufmerksamkeit und Konzentration
- Strategien zum Setzen von Prioritäten, Aufteilen von Aufgaben in Teilschritte, Vermeidung von Ablenkungen usw.
- Achtsamkeitstraining
- Yoga, Meditation usw.
Bei kognitiven Störungen ohne Fatigue kann auch Hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) zum Einsatz kommen. Diese sollte bei Belastungsintoleranz aber auf keinen Fall angewendet werden, da die Therapie recht anstrengend ist und wieder zu Abstürzen führen kann.
Quintessenz: Niemals überfordern
Die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Long Covid oder Post-Vac-Syndrom sollte sehr individuell erfolgen und an die spezifischen Bedürfnisse des einzelnen Menschen angepasst werden. Dabei gilt es stets die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Leitlinien im Blick zu behalten, denn die Forschung zu Long Covid schreitet kontinuierlich fort – auch im Bereich Physiotherapie und Physikalische Medizin. An allererster Stelle aber ist es wichtig immer wieder abzufragen, ob die Symptome und Beschwerden mit einer Belastungsintoleranz einhergehen. Ist dies der Fall, darf sich der Patient oder die Patientin auf keinen Fall überfordern. Aufgabe von therapeutischer Seite: Pacing. Pacing. Pacing. So kann die physiotherapeutische Unterstützung in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten die Genesung und die Rückkehr zu einem aktiven Lebensstil fördern.