Immer mehr Menschen mit Long Covid oder Post Vac suchen Hilfe durch Physiotherapie. Die Symptome sind vielfältig, die Therapieansätze noch sehr vage. Doch auch wenn echte Heilung noch nicht in Sicht ist, lassen sich durch physiotherapeutische Maßnahmen Beschwerden lindern und Patientinnen und Patienten schrittweise wieder in den Alltag zurückführen. Wir sagen Ihnen, was Sie dabei beachten müssen – denn vor der Therapie muss eine richtungsweisende Frage stehen.
Noch rätselt die Wissenschaft darüber, wie genau das Corona-Virus den Organismus beeinträchtigt und was bei Long Covid und Post-Vac-Syndrom (Long Covid nach Coronaimpfung) im Körper passiert. Patientinnen und Patienten klagen über die unterschiedlichsten Symptome, deren Ursachen größtenteils noch nicht erforscht sind – von anhaltender Müdigkeit, Muskelschwäche und Atemproblemen bis hin zu Gelenk- und Muskelschmerzen oder kognitiven Beeinträchtigungen. Wirklich geheilt werden kann Long Covid bislang nicht, doch erfahren viele Patientinnen und Patienten durch Physiotherapie eine deutliche Linderung ihrer Beschwerden. „Wissenschaftlich fundierte Studien zur Wirkung von Physiotherapie bei Long Covid stehen noch aus, doch können wir mittlerweile auf profunde klinische Erfahrung zurückgreifen“, sagt Dr. Jördis Frommhold. Die Fachärztin für Innere Medizin und Pneumologie befasst sich seit Ausbruch der Corona-Pandemie mit der Erkrankung und ihren Folgen – zunächst als Chefärztin einer Rehaklinik für Lungenerkrankungen.
Um Betroffene auch ambulant bestmöglich zu unterstützen, gründete Frommhold 2022 das Institut für Long Covid in Rostock, das Menschen mit Langzeitfolgen nach SARS-CoV-2-Infektion oder nach Coronaimpfung bei der Suche nach geeigneten Therapien unterstützt: „Wir verstehen uns als Patientenlotsen. Das heißt: Wir erstellen für die Patientinnen und Patienten nach einem ausführlichen Gespräch und Sichtung der vorliegenden Befunde einen multimodalen, individualisierten, hybriden Therapieplan, der unabhängig von stationären Einrichtungen funktioniert,“ so Frommhold. Die Beratung erfolgt meist per Videosprechstunde. Anschließend erhalten die Patienten ein Empfehlungsschreiben für den Hausarzt, der dann die entsprechenden Verordnungen vornimmt – sei dies Physiotherapie, Psychotherapie oder auch Off-Label-Medikation beispielsweise mit Antihistaminika.
Nicht alle Patienten sind gleich
Physiotherapie spielt auf dem oft steinigen Weg der Genesung nach Corona eine wesentliche Rolle – von passiven Methoden der physikalischen Therapie bis hin zu Kraft- und Ausdauertraining. Aber Vorsicht! Nicht alle Long-Covid-Patienten sind gleich und nicht jeder profitiert von leistungssteigerndem Training. „Long Covid und Post Vac umfassen einen ganzen Komplex an Symptomen mit teils diffusen Beschwerden, und nicht jeder Patient hat alle Symptomausprägungen“, erklärt Dr. Frommhold. „Manche zeigen eine starke Fatigue-Symptomatik, andere haben Muskelschmerzen, Atemprobleme oder polyneuropathische Beschwerden. Es gibt auch Mischbilder oder unterschiedliche Gewichtungen – und je nach Symptomatik muss man ganz anders behandeln.“
Die alles entscheidende Frage: Belastungsintoleranz – ja oder nein?
Um Patienten mit Long Covid und diffusen Beschwerden angemessen unterstützen zu können, muss die erste Frage in der Physiotherapie lauten: Gibt es Anhaltspunkte für eine Fatigue (Erschöpfung) mit Belastungsintoleranz? Das heißt: Sind die Beschwerden dauerhaft vorhanden oder werden sie nach Belastung schlimmer? „Dies zu erfragen und einzuordnen ist natürlich in erster Linie Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten, aber noch immer kennen nicht alle Mediziner diese Korrelationen und nicht alle nehmen sich die Zeit, solche Zusammenhänge zu erfragen“, stellt Dr. Frommhold fest.
Eine Belastungsintoleranz kann sich bei Muskel- und Gelenkschwäche oder -schmerzen ebenso zeigen wie bei Störungen der Atemmechanik sowie kognitiven Einschränkungen wie Brainfog oder Konzentrationsstörungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Belastung körperlich, emotional oder kognitiv ist. Wichtig ist allein die Frage, ob sich der Zustand nach irgendeiner Form der Belastung verschlechtert.
„Das Tückische bei der Unterscheidung ist, dass die Verschlechterung nicht immer direkt nach der Belastung auftreten muss“, betont Dr. Frommhold. „Manchmal verschlimmern sich die Symptome auch erst nach Stunden oder bis zu zwei Tage später. Die Patienten sind sich dann gar nicht bewusst, dass es sich um belastungsabhängige Symptome handelt. Es ist also sehr wichtig, die Menschen darauf hinzuweisen, dass diese Latenz existiert.“
Auf der anderen Seite gibt es auch Long-Covid-Patienten, bei denen die Symptome nicht belastungsabhängig sind. Das heißt: Die Symptome treten isoliert und häufig dauerhaft auf, also unabhängig von aktueller Belastung.
Symptomdiagramm zur Unterstützung
Ganz praktisch empfiehlt die Ärztin ihren Patientinnen und Patienten, mit einem Symptomdiagramm zu arbeiten: Man zeichnet die Wochentage auf der x-Achse (waagerecht) und die Beschwerdeintensität von 0 bis 10 auf der y-Achse (senkrecht). Dann macht man jeden Tag ein Kreuz, um das aktuelle Befinden zu dokumentieren. So wird auch sichtbar, wenn sich der Zustand erst ein oder zwei Tage nach Belastung – etwa durch eine Therapieeinheit – verschlechtert. Alternativ kann auch ein Beschwerdetagebuch hilfreich sein, wobei hierbei die Entwicklung nicht auf einen Blick zu erkennen ist.
Pacing: Niemals über die Belastungsgrenze gehen
Die einfache Frage hat komplexe Folgen: Je nachdem, ob die Symptomatik eines Patienten belastungsabhängig ist oder nicht, fallen die Wahl der physiotherapeutischen Maßnahmen und deren Intensität aus. „Wenn beispielsweise eine Muskelschwäche oder Gelenkschmerzen dauerhaft bestehen, also unabhängig von einer Belastungsintoleranz, dann kann man mit den klassischen physiotherapeutischen Ansätzen wie etwa Muskelaufbau durch Krafttraining starten und die Leistung kontinuierlich steigern“, erklärt Dr. Frommhold.
Zeigt die Patientin oder der Patient jedoch eine Belastungsintoleranz, ist die oberste Maxime: Pacing. Das heißt, dass man in der Therapie niemals die Belastungsgrenze überschreiten darf. Ganz im Gegenteil: Aufgabe des Therapeuten oder der Therapeutin ist in diesem Fall, strikt darauf zu achten, dass der Patient immer unterhalb seines Leistungslimits bleibt. Andernfalls ist mit einer akuten Verschlechterung der Symptome zu rechnen. Besonders wachsam sollte man sein, wenn ein Patient mit Fatigue-Symptomatik an einem Tag, an dem es ihm recht gut geht, so richtig loslegen will – nach dem Motto: Lass uns noch etwas mehr Gewicht auflegen oder 10 Minuten länger machen. „Da gilt es von Seite des Physiotherapeuten unbedingt zu bremsen“, betont Dr. Frommhold. „Man muss bei Belastungsintoleranz in jedem Fall unter dem Limit bleiben, damit die Therapie nicht zu einer Überlastungsreaktion führt. Damit die Patienten sich selbst nicht überfordern, sollte man ihnen diese Zusammenhänge eindringlich und verständlich erklären.“