Mangelernährung kann bei Sarkopenie ein wesentlicher Faktor sein. Vor allem eine zu geringe Proteinzufuhr begünstigt den Abbau von Muskelmasse und damit auch die Immobilität. Ein erfahrener Geriater und Ernährungsmediziner erklärt, wie Physiotherapeuten eine unzureichende Nährstoffzufuhr bei älteren Menschen erkennen können. Außerdem erfahren Sie, wie Physios ihre Patientinnen und Patienten in Ernährungsfragen unterstützen, ohne ihre Kompetenzen zu überschreiten.
Die Gesellschaft wird immer älter. Und damit auch die Patientinnen und Patienten in den Physiopraxen, die im hohen Alter besondere Zuwendung brauchen. Ein Grund dafür ist in vielen Fällen die Sarkopenie: Der fortschreitende Abbau von Muskelmasse und Muskelkraft geht häufig mit funktionellen Einschränkungen einher. Die körperliche Leistungsfähigkeit nimmt ab – und mit ihr die Lebensqualität. Außerdem nimmt die Neigung zu Stürzen und Knochenbrüchen zu.
Muskelschwund im Alter: Häufig fehlt es an Proteinen
Ursache für den schleichenden Muskelabbau kann außer Entzündungsprozessen im Körper auch ein Mangel an bestimmten Nährstoffen sein. Dieser kann sich durch den regelmäßigen Kontakt mit den Patienten gerade in der Physiotherapie deutlich zeigen. „In der Geriatrie haben wir es häufig mit Sarkopenie zu tun, bei der Immobilitätsprobleme und Mangelernährung miteinander vergesellschaftet sind”, sagt Prof. Dr. Ralf-Joachim Schulz, Chefarzt des Altersmedizinischen Zentrums am Cellitinen-Krankenhaus St. Marien in Köln. „Der Physiotherapeut ist hier ein wichtiger Beobachter, der anhand körperlicher Aktivität auf mögliche Ernährungsdefizite hinweisen kann.“
Ganz grundsätzlich muss man wissen, dass Senioren gegenüber jüngeren Menschen ganz andere Ernährungsbedürfnisse haben: „Auf der einen Seite nimmt der Kalorienbedarf mit zunehmendem Alter ab, auf der anderen Seite gehen wir bei betagten Patienten von einem höheren Proteinbedarf aus, da ältere Menschen – gerade im Krankheitszustand – die Muskelproteine zur Energiegewinnung heranziehen”, erklärt Prof. Schulz. „Die Sarkopenie, also der massive Abbau der Muskelmasse, kann demnach ein Hinweis auf fehlerhafte Ernährung sein, vor allem auf eine zu geringe Proteinzufuhr.”
Was kann auf eine Mangelernährung hinweisen?
Ein Zeichen für eine solche Mangelernährung kann ein plötzlicher Gewichtsverlust beim Patienten sein. „Wir Geriater haben da einen ganz einfachen Indikator: die Kleidung und der Umfang der Oberschenkel“, sagt Prof. Schulz: „Wenn ein Patient seine Hose nur noch mit Hosenträgern halten kann und man sieht, dass er an Bauch und Oberschenkeln massiv abgenommen hat, werden wir hellhörig und müssen fragen, ob sich der Patient ausreichend ernährt.”
Den simplen Indikator der Gewichtsabnahme können auch Physiotherapeuten als ersten Hinweis auf eine Mangelernährung nutzen. Außerdem sollten sie aufmerksam werden, wenn in der Physiotherapie die Schrittlänge und die Ganggeschwindigkeit eines Patienten auffällig abnehmen oder der Gang schlurfend wird. Auch Schwindel, Konzentrationsstörungen, nachlassendes Reaktionsvermögen und schlechte Wundheilung können Indikatoren für einen Proteinmangel sein.
Im Altersmedizinischen Zentrum Köln bieten die Therapeuten ihren Patienten nach jeder Therapieeinheit einen Eiweiß-Drink an. „Dies empfiehlt sich bei älteren Patienten auch deshalb, weil im Alter häufig die Bauchspeicheldrüse verkümmert”, sagt Prof. Schulz. „Sie kann dann nicht mehr genügend eiweißspaltende Enzyme produzieren. Bei Eiweiß-Drinks sind die Proteine schon so aufgeschlossen, dass sie diese komplexen Enzymreaktionen nicht mehr brauchen und deshalb leichter resorbiert werden. Wir gleichen durch diese Drinks also auch eine altersbedingte Organschwäche aus.”
Ausreichende Flüssigkeitszufuhr unterstützen
Neben der Frage, ob der Energie- und Proteinbedarf eines Patienten so gedeckt ist, wie es seinem Aktivitätsprofil entspricht, gilt es bei älteren Patienten auch die auseichende Flüssigkeitszufuhr im Auge zu behalten. „Mit zunehmendem Alter kommt es häufig zu einer Trinkschwäche, doch den Flüssigkeitsbedarf eines Menschen zu ermitteln ist kein Hexenwerk”, so Prof. Schulz. „Wir fahren ganz gut mit der Formel 30 ml Flüssigkeit pro kg Körpergewicht. Ein 70 Kilo schwerer Mensch sollte also im Normalfall täglich etwa 2,1 l Flüssigkeit zu sich nehmen – am besten gleichmäßig über den Tag verteilt.”
In der Geriatrie des St. Marien-Hospitals sind die Therapeuten angehalten, den Patienten nach jeder Physiotherapie-Einheit ein Glas Wasser anzubieten. „Auch wenn bei älteren Patienten die Übungen weniger anstrengend sind, wird durch körperliche Aktivität der Stoffwechsel angeregt”, erklärt der Chefarzt. „Das heißt: Es entstehen Stoffwechselprodukte, die vom Körper ausgeschieden werden müssen. Deswegen muss man dafür sorgen, dass die Leute genügend Flüssigkeit zu sich nehmen.” Auch in der Physiopraxis empfiehlt es sich, für die Patienten immer genügend Wasser bereitzuhalten. Aromatisiert mit frischer Minze, Zitrone und/oder Gurke ist das erfrischende Nass nicht nur ein gesunder Durstlöscher, sondern auch ein optisches Highlight.
ACHTUNG: Bei Herzschwäche ist Vorsicht geboten, da der Körper mehr Wasser einlagert, was zu Ödemen führen kann. In solchen Fällen kann eine zu hohe Flüssigkeitszufuhr lebensbedrohlich werden. Deshalb bei Herzerkrankungen mit Verdacht auf Flüssigkeitsmangel unbedingt ärztliche Expertise einholen!
Vitamin D: Im Alter noch wichtiger als in jungen Jahren
Auch im hohen Alter gilt: Eine ausgewogene Ernährung reicht für einen ausgeglichenen Nährstoffspiegel aus. Dies gilt auch für Vitamine und Mineralien. Es ist also im Normalfall nicht nötig, industrielle Produkte zu sich zu nehmen. Eine Ausnahme macht hier das Vitamin D: „Wenn es um gesundes Altern geht, dann sollte man neben den Blutfettspiegeln unbedingt das Vitamin D als wichtigen Parameter im Auge behalten”, betont Prof. Schulz. Er empfiehlt generell den „TÜV 70”: „Ab 70 sollte jeder einmal den Vitamin-D-Spiegel vom Hausarzt kontrollieren lassen”, so der Geriater. „Bei einem diagnostizierten Defizit wird dann supplementiert und man sollte weiterhin regelmäßig kontrollieren, denn der Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und Sarkopenie sowie auch Osteoporose ist klinisch belegt.” Der Sonne sollte man alte Haut dagegen nicht mehr allzu stark aussetzen. Zwar trägt UV-Strahlung zur Bildung von Vitamin D bei, doch funktionieren im Alter die Reparaturmechanismen der Haut nicht mehr so gut, das Hautkrebsrisiko steigt.
Bei Verdacht auf Mangelernährung: Patienten zum Arzt schicken
Sollten Physios im Verlauf der Therapie bei älteren Patientinnen und Patienten also einen Gewichts- oder Kraftverlust, Gangunsicherheiten oder Konzentrationsprobleme feststellen, so kann dies auf Ernährungsfehler oder sogar auf eine schwerwiegende Mangelernährung hinweisen. „Das kann man als Physiotherapeut sehr gut sehen, und die Therapeuten berichten uns im Hinblick auf diese Parameter von überraschenden Therapieerfolgen, wenn wir den Protein-, Kalorien- und Flüssigkeitsbedarf decken und zum Teil auch Vitamine supplementieren”, so Prof. Schulz. Allerdings können ähnliche Symptome auch auf eine beginnende Demenz und andere Erkrankungen hinweisen. Diagnostik und Therapie gehören deshalb immer in ärztliche Hände: Sollten sich in der Physiotherapie Symptome zeigen, die auf eine Mangelernährung hindeuten, gilt es den Patienten oder die Patientin darauf aufmerksam zu machen und zum Hausarzt zu schicken. Sollte sich als Ursache der Beschwerden tatsächlich ein Ernährungsfehler herausstellen, empfiehlt der Arzt oder die Ärztin möglicherweise eine Ernährungsberatung.
Da Physiotherapie und Ernährung für Patientinnen und Patienten positive Synergieeffekte erzielen können, entscheiden sich immer mehr Physiotherapeutinnen und -therapeuten, auch Ernährungsberatung anzubieten – ob durch eine eigene Fortbildung oder durch Kooperation mit Ernährungsexperten. Mehr dazu erfahren Sie in der nächsten Ausgabe von proxovision.