Die moderne Therapiewissenschaft hat die neurologische Rehabiliation nachhaltig verändert. Heute weiß man, warum traditionelle Therapieansätze bei Patienten mit Schlaganfall, Multipler Sklerose oder Parkinson häufig nicht die gewünschten Erfolge bringen: Es fehlt die hirngerechte Vernetzung motorischer und kognitiver Elemente im Training. Auf der anderen Seite zeigen neue evidenzbasierte und kontextsensitive Konzepte erstaunliche Ergebnisse – häufig bis hin zur erfolgreichen Wiedereingliederung in den Alltag.
Die Therapie für Menschen mit neurologischen Erkrankungen stellt hohe Anforderungen an Therapeutinnen und Therapeuten. Um die besonderen Bedürfnisse und Ziele von Menschen mit Parkinson, Multipler Sklerose oder nach Schlaganfall zu erfüllen, galt die interdisziplinäre Therapie, also die Kombination unterschiedlicher traditioneller Therapiemethoden, lange Zeit als Goldstandard. So arbeiten in vielen Rehakliniken und Therapiezentren Physio-, Ergo- und Logotherapeuten Hand in Hand. Sie tauschen sich aus und setzen alles daran, durch gemeinsame Anstrengungen ihre Patienten bei der Verbesserung ihres Gesundheitszustands bestmöglich zu unterstützen. Die Kombination der unterschiedlichsten traditionellen Therapieformen zielt darauf ab, die motorischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten der Patientinnen und Patienten zu fördern.
Allerdings lassen die Ergebnisse in vielen Fällen zu wünschen übrig. Dies liegt unter anderem daran, dass häufig zu wenige Therapieeinheiten pro Woche verschrieben werden – sei dies KG-ZNS, Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF) oder klassische Krankengymnastik. „Die Therapie kann noch so professionell sein – wenn sie nicht mit evidenzbasierten Methoden, hoher Frequenz, aktiv und vor allem mit hoher Intensität in einem motivierenden und umfassenden Trainingsprozess angeboten wird, vollzieht sich der Gesundungsprozess oft sehr langsam“, sagt Maik Hartwig, Gründer und Inhaber der Therapieinstitute THERAMotion in Schweinfurt und Bad Königshofen. Als Ergotherapeut, Lehrtherapeut und Dozent für Neurorehabilitation befasst er sich seit Jahrzehnten mit zukunftsweisenden Ansätzen der neurologischen Rehabilitation.
Die Grenzen überlieferter Therapieansätze
Immer mehr Bedeutung gewinnt im Reha-Management die Frage, ob und wie Therapeuten und Teams die jeweils neuesten Forschungsergebnisse in die Praxis umsetzen. „Wenn wir neurologischen Patienten wirklich helfen wollen, müssen wir uns als Physio- und Ergotherapeuten von traditionellen Therapiekonzepten lösen“, betont Hartwig. „Das heißt in erster Linie: Wir müssen evidenzbasiert, also auf Grundlage der neuesten, als wirksam belegten wissenschaftlichen Erkenntnisse arbeiten, um unseren Patienten das Beste zu geben, was sie verdient haben. Neue Studien aus den Bereichen Hirnforschung und motorisches Lernen machen klar, wie wichtig es ist, sich vom modularen Arbeiten zu lösen – ganz besonders in der neurologischen Reha.“
Es nutzt also wenig, isoliert an einzelnen Muskeln, Gelenken oder Funktionen wie etwa Gleichgewicht zu arbeiten oder in separaten Einheiten kognitive Fähigkeiten zu trainieren. Schließlich gehe es allen Patienten darum, wieder ins soziale Leben oder in den Berufsalltag zurückzukehren. „Dieser Alltag besteht nicht aus voneinander getrennten Einzelteilen, sondern aus einem Miteinander des gesamten Systems“, so Hartwig weiter. „Man braucht ja nicht morgens die Motorik, nachmittags die Sensibilität und abends die Kognition, sondern eben alles zusammen.“
Transdisziplinäre Therapie: Ganzheitlicher Ansatz im besten Sinne
Schon sehr früh in der Therapie sollte man deshalb kontextsensitiv arbeiten. Das heißt: Die praktischen alltags- und berufsbezogenen Ziele des Patienten werden als Gesamtheit in den Therapieprozess einbezogen. Transdisziplinäres Arbeiten bedeutet also, alle Bereiche der Reha auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und gründlicher Diagnose zusammenzufügen. „Dieser im besten Sinne ganzheitliche Ansatz stellt hohe Anforderungen an den Therapeuten“, sagt Hartwig. „Das heißt aber nicht, dass er noch fünf weitere Ausbildungen machen muss. Um transdisziplinär arbeiten zu können, sollte er jedoch gute Kenntnisse in allen therapeutischen Bereichen sowie auch in kognitiven Therapien haben, um sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Dies braucht neben profundem Wissen auch viel Kreativität.“
Motorisches und kognitives Training verbinden
Ein Beispiel: In der traditionellen modularen Therapie erhält beispielsweise eine Patientin nach Schlaganfall Trainingseinheiten auf einem normalen Laufband, um den sicheren Gang wiederherzustellen. Um auch die Aufmerksamkeitsprobleme in den Griff zu bekommen, trainiert man in getrennten Sitzungen die kognitiven Fähigkeiten und das Reaktionsvermögen. „Wenn die Frau aber auf der unebenen Straße unterwegs ist und an eine Ampel kommt, braucht sie die motorischen und die kognitiven Fähigkeiten gleichzeitig“, so Maik Hartwig.
Die Kombination des Trainings auf dem Laufband mit separatem Hirnleistungstraining nützt also wenig für die Teilhabe am täglichen Leben. „Das Gehirn setzt die einzelnen Fähigkeiten nicht so einfach wieder zusammen“, betont der Ergotherapeut. „Motorik, Haltungskontrolle, Balance und Kognition müssen wirklich gemeinsam trainiert werden.“ Das therapeutische Training sollte der Alltagssituation möglichst nahekommen.
Neue Ansätze mit Computer, Robotik und Virtual Reality
Ganz neue Ansätze liefert hier die computer-, robotik- oder virtual-reality-gestützte Therapie. Zwar befinden sich hierbei Forschung und Entwicklung noch in den Kinderschuhen, doch gibt es bereits technische Möglichkeiten, motorisches und kognitives Training zu verbinden. Zum Beispiel können Patientinnen und Patienten auf dem TecnoBody Walker View ein feedbackgestütztes Gangtraining absolvieren. Da die Aufmerksamkeit während des Gehens auf den Bildschirm und beispielsweise auf eine Straßenlandschaft in Paris gelenkt wird (externaler Fokus), werden neben den motorischen Fähigkeiten auch Reaktion und Aufmerksamkeit geschult.
Ähnliches gilt für die D-Wall und auch für das neue Homing von TecnoBody. Die beiden hochkomplexen Systeme arbeiten mit Virtual Reality, also einer vom Computer geschaffenen Wirklichkeit im 3D-Bild. Hier können Bewegung, Gleichgewicht, Koordination und teils auch kognitive Fähigkeiten gleichzeitig und auf sehr spielerische Weise trainiert werden.
Der Gangroboter Gait Trainer 3 von Biodex arbeitet als multifunktionelles Diagnose- und Therapieinstrument gleichzeitig auf der motorischen und auf der sensorischen Ebene. Optional verbindet es computergestütztes Gangtraining mit Musiktherapie zur audio-rhythmischen Stimulation (RAS – Rhythmic Auditory Stimulation). Die Patienten hören also Musik, während sie auf dem Laufband trainieren. Diese Kombination fördert das optimale Zusammenspiel verschiedener Kontrollmechanismen in Körper und Gehirn. Vor allem bei Parkinson-Patienten kann so ein deutlich verbesserter Gang erreicht werden.
Auf bestem Weg zum Multitasking
Noch einen Schritt weiter geht Maik Hartwig mit seinem transdisziplinären Konzept bei THERAMotion: Auf Basis detaillierter Diagnostik und individueller Ziele lässt er beispielsweise Patientinnen und Patienten nach Schlaganfall auf dem Gangroboter laufen und gleichzeitig Übungen für die Hand- und Armfunktion ausführen. Parallel dazu wird die Hirnleistung trainiert. Hierzu spielt der Therapeut während des Bewegungstrainings auf einem Fernsehbildschirm ein Trainingsprogramm fürs Gehirn ab. Dies können einfache Rechen-, Reaktions- oder Gedächtnisübungen sein, die im traditionell modularen Therapieansatz in einer separaten Sitzung am Schreibtisch praktiziert würden. „Mit solchen spielerischen Übungen lassen sich sowohl motorisch als auch kognitiv schnell Fortschritte erzielen. Beim transdisziplinären Training zeigt sich in den meisten Fällen eine signifikant bessere Bewegungsqualität und auch -quantität als bei traditioneller Therapie. Schritt für Schritt entwickeln die Leute wieder die Fähigkeit zum automatisierten Multitasking, während sie zuvor nur eine oder bestenfalls zwei Tätigkeiten gleichzeitig ausführen konnten.“
Der transdisziplinäre Ansatz in der therapeutischen Praxis
Aufgrund jüngster wissenschaftlicher Erkenntnisse mag es nicht verwundern, dass in Physiopraxen und Rehazentren immer mehr computer- oder robotikgestützte Geräte Einzug halten. Natürlich wird die profunde therapeutische Erfahrung niemals ersetzbar sein, wenn es darum geht, Patientinnen und Patienten nach bestem Wissen und Gewissen zu begleiten. Dennoch gebietet die Evidenz, den Menschen die bestmögliche Therapie anzubieten – und da sind den traditionellen Verfahren Grenzen gesetzt. „Die modernen Geräte ermöglichen ein viel intensiveres und zielgerichteteres Training als ein noch so gutes modulares Therapiekonzept dies je leisten kann“, erklärt Maik Hartwig.
Im Zentrum steht bei neurologischen Patienten dabei das Ziel, auf dem Weg der Neuroplasizität wieder möglichst viele neue Verbindungen im Gehirn herzustellen. Inzwischen weiß man nämlich genau, wie das Hirn lernt und wie motorische Verbesserungen nach Hirnschädigungen erreichbar sind.
Sieben Faktoren spielen hierbei eine besondere Rolle:
- hohe Anzahl an Wiederholungen
- Motivation
- externaler Fokus, also Lenkung der Aufmerksamkeit weg von der Extremität
- suksessive Steigerung des Schwierigkeitsgrades (Shaping)
- Biofeedback (akustisch, taktil oder visuell)
- trainieren an der Leistgungsgrenze
- positive Verstärkung
Diese Lernfaktoren fürs Gehirn werden von vielen computer- und robotikgesteuerten Geräten erfüllt. Und übrigens: Die hochmodernen und stetig weiterentwickelten Systeme leisten nicht nur Reha-Patientinnen und -Patienten wertvolle Dienste. Auch im Leistungssport lassen sie sich gewinnbringend einsetzen – für Diagnostik genauso wie für effektives und zielorientiertes Training.