Im März 2020 einigte sich der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit seinen Länderkolleginnen und -kollegen auf ein „Gesamtkonzept Gesundheitsberufe“. Ziel war es, die Ausbildungen in den Gesundheitsfachberufen neu zu gestalten und auf die Herausforderungen der Zukunft auszurichten. Seither arbeiten auch die Verbände für Physiotherapie an neuen Ausbildungswegen und -konzepten. Vorgesehen ist eine Teilakademisierung der physiotherapeutischen Ausbildung. Anfang August 2022 gab es einen neuen Vorstoß des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), um die Akademisierung der Physiotherapie voranzubringen. proxovision sprach dazu mit Marcus Troidl, Bundesvorsitzender des VDB-Physiotherapieverbands (Berufs- und Wirtschaftsverband der Selbstständigen in der Physiotherapie).
» Herr Troidl, was ist gemeint, wenn man in der aktuellen Diskussion von einer „Teilakademisierung“ der physiotherapeutischen Ausbildung spricht?
Nach den Plänen des Ministeriums soll die Ausbildung der Physiotherapeuten komplett akademisiert werden, und nur der Masseur/Medizinische Bademeister soll weiterhin eine fachschulische Ausbildung erhalten. Dagegen verstehen wir als VDB unter Teilakademisierung, dass ein Teil der Physiotherapeuten eine akademische Ausbildung durchläuft – der Wissenschaftsrat des Bundes spricht hier von zehn bis 20 Prozent eines Ausbildungsjahrgangs. Für die meisten Physiotherapeuten gäbe es weiterhin die bewährte fachschulische Ausbildung.
» Die Meldung, dass die Akademisierung vom BMG aktiv vorangetrieben wird, hat bei etablierten Physiotherapeuten nicht gerade Begeisterung ausgelöst. Was befürchten sie?
Was uns droht, wenn die Physio-Ausbildung tatsächlich komplett an Hochschulen oder Fachhochschulen verwiesen wird, ist ein noch extremerer Fachkräftemangel. Wir sind da in der Physiotherapie seit Jahren bei Farbe dunkelrot, denn es fehlen in Deutschland nach einer Umfrage des VDB-Physiotherapieverbands rund 100.000 Physiotherapeuten. Wenn man den Zugang zur Ausbildung jetzt auf Menschen mit Abitur oder Fachhochschulreife begrenzt, würde das die Situation nochmals extrem verschärfen. Darüber hinaus wäre die Ausbildung an privaten Hochschulen wohl nicht mehr schulgeldfrei.
» Wie würde denn ein Übergang nach den Plänen des BMG aussehen?
Über die genaue Ausgestaltung der Pläne gibt es vom BMG noch keinerlei Informationen. Man müsste ja erst einmal die entsprechenden Hochschulen gründen, Lehrinhalte erstellen und Lehrkräfte mit Hochschulqualifikation finden. Das dauert mindestens ein bis zwei Jahre. Ein Problem sehe ich jetzt schon in der derzeit bestehenden Unsicherheit: Welcher Schüler entscheidet sich denn heute noch für eine Physioausbildung an der Fachschule, wenn er davon ausgehen muss, dass die Ausbildung in ein paar Jahren akademisiert wird und er dann als Therapeut zweiter Klasse arbeiten darf? Damit fehlen in der Übergangszeit mehrere Jahrgänge an Physiotherapeuten und alle Fachschulen in Deutschland sind pleite. All das können wir doch gerade angesichts des Fachkräftemangels nicht wollen.
» Was schlagen Sie als Vorsitzender des VDB-Physiotherapieverbands vor?
Auch wir sind für eine Teilakademisierung der Ausbildung. Damit meinen wir aber etwas völlig anderes als das BMG und auch als manch andere Verbände. Für uns heißt dies, dass ein gewisser Anteil der Auszubildenden durchaus eine Hochschulausbildung erfährt – mit dem Ziel, dann beispielsweise große interdisziplinäre Einrichtungen zu leiten oder auch das Feld der Physiotherapie in Forschung und Lehre zu besetzen. Für den Physiotherapeuten, der im täglichen Geschäft mit Patienten arbeitet, ist eine fachschulische Ausbildung nach wie vor der bessere Weg. Ich glaube einfach nicht, dass ein studierter Physiotherapeut besser ist als ein fachschulisch ausgebildeter.
» Die Antworten der Verbände auf die Umfrage liegen dem BMG inzwischen vor. Wie geht es jetzt weiter?
Das weiß ich nicht. Momentan ist nicht abzusehen, welches Ende diese Vorgänge nehmen werden. Die Befürworter der Vollakademisierung, darunter das BMG, sprechen von einer Besitzstandswahrung, also davon, dass die bereits ausgebildeten Physiotherapeuten nicht benachteiligt werden sollen, aber wie das praktisch umgesetzt werden soll, kann ich mir nicht vorstellen.
» Wie wollen Sie die Akademisierung, wie sie jetzt geplant ist, noch verhindern?
Wir vom VDB-Physiotherapieverband führen viele intensive Gespräche und bringen all die hier genannten Argumente gegenüber den Entscheidern vor. Momentan ist noch völlig unklar, wie das ausgeht. Ich sehe es so: Wir schwimmen momentan wirklich in einem Sturm. Jetzt die Vollakademisierung einzuführen wäre so, als wenn man noch zusätzlich eine Windanlage und dazu eine Gegenstromanlage aufbauen würde. Das gilt es zu vermeiden. Denn wir wollen die Patientenversorgung ja auch in den nächsten Jahren gewährleisten.