Seit 1. April 2024 können Ärzte und Psychotherapeuten erstmals so genannte Blankoverordnungen für Heilmittel ausstellen – oder amtlich ausgedrückt: Verordnungen mit erweiterter Versorgungsverantwortung von Heilmittelerbringern. Dies gilt zunächst aber nur für bestimmte Diagnosegruppen in der Ergotherapie wie etwa Erkrankungen der Wirbelsäule, Gelenke und Extremitäten sowie wahnhafte Störungen und dementielle Syndrome. Wir fragten Bettina Simon vom Deutschen Verband Ergotherapie (DVE), wie sich die neue Regelung in den ersten Monaten bewährt hat und inwiefern die Erfahrungen der Ergotherapeuten als Blaupause für ähnliche Lösungen in der Physiotherapie dienen könnten.
» Frau Simon, seit dem 1. April können Ärzte und Psychotherapeuten sogenannte Blankoverordnungen für einige ergotherapeutische Diagnosegruppen erstellen. Welche Erfahrungen haben Sie und Ihre Kollegen in den ersten Monaten damit gemacht?
Unsere ersten Erfahrungen waren, dass die Ausstellung von Blankoverordnungen zunächst nur regional und in einem begrenzten Rahmen erfolgte. Auf Nachfrage durch die Ergotherapeut:innen wurde in den ärztlichen Praxen oftmals Unkenntnis über die Möglichkeit der Blankoverordnung angegeben. Für den DVE ist das wenig nachvollziehbar, da die kassenärztliche Bundesvereinigung dazu stringent informierte und auch die Praxisverwaltungssoftware mit Updates angepasst wurde.
» Warum und wie hat sich der Deutsche Verband Ergotherapie für Blankoverordnungen stark gemacht?
Der DVE setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass die Ergotherapeut:innen mehr berufliche Autonomie erlangen. Die Abhängigkeit von der ärztlichen Verordnung, um mit Klient:innen ergotherapeutisch arbeiten zu können, schränkt die gesundheitliche Versorgung ein. Ohne den Umweg über den Arzt wäre der Zugang zur ergotherapeutischen Praxis für die Klient:innen leichter. Außerdem passt die Verordnung inhaltlich oft nicht zur ergotherapeutischen Indikation und zur Zielsetzung für den individuellen Menschen. Schließlich sind für die Behandlung die Ergotherapeut:innen die Experten – und nicht die Ärzt:innen.
Der DVE hat deshalb bereits 2015/2016 ein Konzept für ein Modellprojekt Blankoverordnung erstellt und dafür einen Partner bei den gesetzlichen Kassen gesucht. Zu dieser Zeit sah das SGB V (5. Buch des Sozialgesetzbuches) die Möglichkeit für Modellprojekte zur Blankoverordnung vor. Da keine Krankenkasse damals dazu bereit war, hat der Gesetzgeber bekanntermaßen die Blankoverordnung mit dem § 125a SGB V zur Regelversorgung gemacht. Sobald es möglich war, begann der DVE mit den Verhandlungen, die über fast zwei Jahre liefen und mit einem Schiedsverfahren beendet wurden. Wir haben hier einen langen Atem bewiesen und sind mit dem Ergebnis zufrieden.
» Was genau bedeutet die Blankoverordnung für Therapeutinnen und Therapeuten?
Die Ergotherapeut:innen erhalten mit der Blankoverordnung die Möglichkeit einer flexiblen Behandlung für 16 Wochen. Das bedeutet, dass sie in diesem Zeitraum frei über die einzusetzenden Heilmittel, die Dauer der Behandlung und die Frequenz der Termine entscheiden können. Die dafür entsprechenden Felder auf dem Verordnungsmuster werden von den Ärzt:innen nicht ausgefüllt. Die Entscheidungen werden stattdessen nach der Bewertung der ergotherapeutischen Diagnostik und der gemeinsamen Zielsetzung mit den Patient:innen gefällt und im Verlauf der 16 Wochen je nach Entwicklung beständig angepasst. Über die Therapieergebnisse erhalten die Ärzt:innen am Ende der 16 Wochen einen Bericht, sofern sie diesen anfordern.
» Welche Vorteile bringt dies für die Patientinnen und Patienten, welche für das Gesundheitssystem?
Die Patient:innen können für 16 Wochen durchgehend behandelt werden, ohne in dieser Zeit die Arztpraxis für eventuell neue Verordnungen aufsuchen zu müssen. Mit der individuell je Patient:in durchgeführten Behandlung erwarten wir einen höheren Effekt der Therapie und ein schnelleres Erreichen der Therapieziele. Die Patient:innen werden auch viel mehr in die Entwicklung der Behandlung einbezogen, da im Verlauf der Therapieaufbau beständig verändert werden kann und dies mit den Patient:innen gemeinsam besprochen und entschieden wird. Das sollte ein wichtiger Motivationsschub für deren Mitarbeit und die Umsetzung der Therapieinhalte im häuslichen Umfeld sein. Eine effektivere Therapie kann das Gesundheitssystem auf längere Sicht entlasten. Zum Beispiel mit einer schneller beendeten Therapie, mit der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit oder der Verhinderung von Pflegebedürftigkeit.
» Könnte die Blankoverordnung für Ergotherapie als Blaupause für eine ähnliche Regelung in der Physiotherapie gelten?
Die Ergotherapie und die Physiotherapie sind in Bezug auf die Blankoverordnung nur bedingt vergleichbar. Natürlich gibt es Schnittpunkte bei den Patient:innen, da diese bei bestimmten Diagnosebildern häufig beide Therapien verordnet bekommen, beispielsweise bei Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems oder bei neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfall oder Parkinson. Die Therapiedurchführung, die angewandten Methoden und die Zielsetzung unterscheiden sich dann allerdings. Grundsätzlich würden für die Physiotherapie ebenfalls die 16 Wochen Dauer Gültigkeit der Blankoverordnung und die Freiheit für die Entscheidung über die einzusetzenden Heilmittel, die Dauer der Behandlung und die Frequenz der Termine gelten. In der Ergotherapie wurden vertraglich drei Diagnosegruppen festgelegt, dies ist aber nicht zwangsläufig auf die Physiotherapie übertragbar. Hier können sich die Vertragspartner auch auf einzelne Diagnosen einigen.